Ich bin eine zeitlang auf dem Weg zur Arbeit fast jeden Tag mit dem Bus am Hamburger Hauptbahnhof vorbeigefahren. Rund um den Hauptbahnhof wimmelt es, wie wohl
überall an einem solchen Ort auf der Welt, von Leuten verschiedener Subkulturen. Eines Tages waren auf einem Bahnhofsvorplatz dann auch Flüchtlingszelte aufgeschlagen. Dieses direkte
Aufeinanderprallen von krasser Armut und Menschen mit Anzug und Krawatte, die sich geschäftig ihren Weg durch die Zelte bahnten, um noch schnell ihren Zug zu erwischen, inspirierte mich zu dieser
Geschichte.
Hugo Hansen, 59 Jahre alt, hat sich in sein Schicksal ergeben. Er ist Vater von ungefähr drei Kindern, vielleicht auch von mehr. So genau bekommt er es nicht mehr zusammen und will es auch nicht. Er kann eh keinem von ihnen etwas bieten. Meist hatte er die Mutter des Kindes sowieso schon kurz nach der Geburt verlassen. „War besser so“, meint er. „Kinder sind nichts für mich. Sind besser dran ohne mich.“ Jedes seiner ungefähr drei Kinder stammt von einer anderen Frau, so viel ist ihm immerhin bekannt. Alle drei sind ehemalige Prostituierte, die in seinem Lieblingsbordell auf der Hamburger Reeperbahn gearbeitet haben. Hugo ist sehr wahrscheinlich auch das Ergebnis einer intensiveren Liaison seiner Mutter Helga mit einem Freier. Seinen Vater hat er nie kennengelernt, seine Mutter schon. Helga Hansen, Jahrgang 1932. „Gott hab' sie selig!“, sagt Hugo. Er mochte seine Mutter sehr und besucht noch heute mindestens einmal im Jahr ihr Grab in Ohlsdorf oder vielmehr die Stelle, wo es einmal war. Sie ist ihm als starke Frau in Erinnerung geblieben. Einmal warf sie einen Freier, der sich nicht zu benehmen gewusst hatte, eigenhändig aus dem Laden. „Der hat vielleicht dumm aus der Wäsche geguckt!“, erinnert sich Hugo. „Und hat danach auch nie wieder Ärger gemacht.“ Leider starb sie schon früh an Tuberkulose. Hugo kam daraufhin mit elf Jahren ins Heim. Seine Mutter hatte einen Bruder namens Hartmut. Hartmut Hansen. Seinen linken Oberarm zierte ein lustiges Seefahrertattoo, mit einer nackten Frau, einem Anker und so weiter. Nach dem Tod von Hugos Mutter hat sich Hartmut aber nie wieder blicken lassen. Als kleiner Junge hatte sich Hugo oft ausgemalt, dass sein Onkel irgendwo auf See wäre und die tollsten Abenteuer erlebte. So ähnlich wie der Vater von Pippi Langstrumpf. Später als erwachsener Mann fand Hugo heraus, dass Hartmut Hansen sein Leben hauptsächlich im Knast verbracht hatte. Er starb sogar dort. Diese Erkenntnis war sehr ernüchternd für Hugo. Denn zu der Zeit arbeitete Hugo bereits seit mehreren Jahren als Stauer im Hamburger Hafen. Insgeheim hatte er immer darauf gehofft, dass eines Tages sein Onkel über und über mit Silber- und Goldschätzen bepackt aus einem der Schiffe, die in Hamburg anlegten, aussteigen und freudestrahlend auf ihn zugehen würde. Das war eine naive Träumerei. Eigentlich untypisch für Hugo, der doch seit eh und je hanseatisch bescheiden und bodenständig ist.
So richtig gut lief es bei Hugo noch nie. Als er schließlich vor gut zwanzig Jahren seinen Job im Hafen verlor (es war nicht seine Schuld. Der
andere hatte ihn provoziert und dafür ordentlich eins auf die Nase bekommen. Dass es gerade der Chef vom Hafenbetrieb war, konnte Hugo ja nicht ahnen!), bekam er bald darauf auch schon diesen
verflixten Husten. Wahrscheinlich ein nachträgliches Andenken aus der Zeit, in der er mit ein paar Kumpels über mehrere Jahre hinweg in einer völlig verschimmelten Wohnung gehaust hatte. Der Arzt
sagte ihm, dass frische Luft am besten gegen den Husten helfe. Das stimmte sogar. Er hielt ja nicht viel von Ärzten und ging erst recht nicht gern zu ihnen in die Praxis. Aber der Arzt, der hatte
mal goldrichtig gelegen. Hugo begann, sich bei Wind und Wetter draußen aufzuhalten. Einen Job hatte er ja nicht mehr und eine Freundin auch nicht. Nachts schlief er immer öfter irgendwo unter
freiem Himmel. Hamburg ist eine schöne Stadt mit mehr Brücken als die Lagunenstadt Venedig. Letzteres hatte er jedenfalls in irgendeiner Kneipe einmal aufgeschnappt. Manche Leute geben ein
Vermögen aus, um an einem der zahlreichen Fleete oder gar der Alster oder der Elbe zu wohnen. Hugo kann das alles umsonst haben. Das gefiel ihm damals so gut, dass er irgendwann – auch um endlich
seine Ruhe vor seinen ewig nörgelnden Ex-Frauen und vor allem dem unangenehmen Behördenkram zu haben – beschloss, für immer draußen zu leben. Er verließ seine eh ziemlich heruntergekommene
Sozialwohnung (Hugo hat es nicht so mit dem Aufräumen und schon gar nicht mit dem Putzen) in Altona und nahm nur das mit, was er wirklich zum Leben brauchte. Und das war nicht viel. Alles passte
perfekt in einen kleinen Rucksack. Die Isomatte und den Schlafsack klemmte er sich unter den Arm. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so frei und unabhängig gefühlt.
Seit nunmehr über sechzehn Jahren lebt Hugo auf der Straße. Nur wenn es mal längere Zeit unter null Grad kalt ist, sucht er eine der
Winterunterkünfte für Obdachlose auf. Ansonsten hält er sich von diesen fern. „Da wird man nur beklaut und seine Privatsphäre kann man auch vergessen“, äußert sich Hugo entrüstet. Er mag nicht
gern eng auf eng mit Menschen sein. Ganz allein ist Hugo aber dennoch nicht. Freddy, ein mittelgroßer Mischlingsrüde, ist sein ständiger Begleiter. „Freddy“ wegen Freddy Quinn, dem
Lieblingssänger seiner Mutter und Hugos Idol aus Kinder- und Jugendtagen. Hugo hatte Freddy vor etwa sechs Jahren das Leben gerettet. Es geschah an einem heißen Sommertag, als Hugo in der Nähe
des Altonaer Bahnhofs herumlungerte und freie Sicht auf eine Reihe parkender Autos hatte. Etwa dreißig Meter vor ihm saß Freddy in einem alten Ford und winselte und jaulte jämmerlich, da keines
der Fenster bei der Hitze geöffnet war. Hugo beobachtete einige Menschen dabei, wie sie kurz neben dem Auto stehenblieben, Freddy mitleidig anguckten, um dann aber nur gestresst auf ihre Uhren
oder Handys zu schauen und mit eingezogenem Kopf schnell weiterzugehen. Irgendwann war es Hugo zu bunt. Als gerade keiner in der Nähe war, schlug er eines der Wagenfenster ein und rettete Freddy
vor dem sicheren Tod. Freddy dankte Hugo diese Tat mit bedingungsloser Treue und Ergebenheit. „So ein Hund ist einfach der beste Begleiter, den man sich wünschen kann: Stellt keine Ansprüche,
nimmt dich so wie du bist und hält immer zu dir“, sagt Hugo und streichelt Freddy dabei über das weiß-braune Fell. Hugo und Freddy halten sich seit ein paar Jahren am liebsten wieder rund um den
Hamburger Hauptbahnhof auf. „Das war unter dem feinen 'Richter Gnadenlos' mal einige Jahre nicht mehr möglich. Der hat dafür gesorgt, dass das 'Gesindel' von der Polizei verscheucht wurde. Als ob
die Polizei nichts Besseres zu tun hätte! Die Bullen sollten mal lieber die richtigen Verbrecher jagen – die Steuerhinterzieher in ihren schmucken Anzügen zum Beispiel oder die vielen
Einbrecher“, so Hugo. Von „Pinguinen“, so nennt Hugo Menschen im Anzug, bekommt er so gut wie nie Geld oder Essen zugesteckt. Die würden nur sich und ihre Karriere im Kopf haben, ist Hugo
überzeugt. Alle anderen sind denen „scheißegal“. „In Wahrheit sind das die Asozialen, nicht wir Obdachlosen!“, regt sich Hugo auf. Am Hauptbahnhof gibt es glücklicherweise aber noch genug andere
Leute, die Hugo etwas Kleingeld in seinen ausgefransten Pappbecher werfen. Viele Angestellte in der „Wandelhalle“ spendieren ihm auch oft heimlich ein Brötchen oder einen Döner, und Freddy
bekommt eine Wurst oder eine Schale Wasser. So lässt es sich schon gut leben.
Leid tun Hugo die Leute, die sich ihr Schicksal nicht ganz so freiwillig ausgesucht haben wie er. „Die Flüchtlinge, die vor einiger Zeit plötzlich in Massen hier auftauchten, das waren und sind alles arme Schweine! Hatten nichts als nur ihre Klamotten und ihr Handy am Leib und keinen blassen Schimmer, wie es in Deutschland läuft. Deutsch können die ja alle nicht sprechen. Und wer kann schon Arabisch oder was auch immer deren Sprache ist? Ein riesiger Schlamassel ist das!“, findet Hugo. Er hatte auch von der Debatte Wind bekommen, dass wegen der Flüchtlinge die Obdachlosen Hamburgs womöglich auf der Strecke bleiben könnten. Davon hat Hugo bisher noch nichts mitbekommen. Einige Warteschlangen bei der mobilen ärztlichen Versorgung und bei der Essensausgabe sind etwas länger geworden. „Aber das Gefühl, zu kurz zu kommen, habe ich nicht“, so Hugo. „Wenn das mal soweit kommen sollte, haben Freddy und ich natürlich ein Problem. Aber im allergrößten Notfall müsste ich dann wieder in eine Wohnung ziehen und Sozialhilfe beantragen. Ich glaube allerdings nicht, dass ich noch resozialisierbar bin. Und Freddy ist bestimmt nicht stubenrein“, lacht Hugo und entblößt dabei seine vielen dunklen Zahnlücken. „Nee, nee, was so 'n richtiger Hamburger Jung ist, der weiß schon, wie er sich durchschlägt“, behauptet Hugo mit einem Augenzwinkern. Nie im Leben würde er mit einem Pinguin tauschen wollen. Warum auch? Sein Leben ist zwar hart und entbehrungsreich und so wirklich gewünscht hat er es sich auch nicht, aber dafür wird er nicht „fremdgesteuert“: Er muss nicht alle drei Minuten auf das Display seines Handys starren – er besitzt noch nicht einmal ein Telefon! Er muss sich auch nicht von einem Vorgesetzten „piesacken“ lassen, um ja nur nicht den Job, das Auto, das Haus und die anspruchsvolle Frau samt den verwöhnten Kindern zu verlieren. Keinem ist er Rechenschaft schuldig. Und er hat massig Zeit! Keine zehn Pferde könnten ihn dazu bringen, seine Zeit in den Blechlawinen des Berufsverkehrs – am besten noch im Schritttempo durch den Elbtunnel oder über die Köhlbrandbrücke – zu vergeuden. Wenn er irgendwohin will, geht er zu Fuß – er hat es ja nicht eilig! Kurz: Jeden Tag kann er tun und lassen, was er will. Wer kann das heutzutage schon von sich behaupten?