Diese Kurzgeschichte stammt aus dem Jahr 2011, als man sich noch häufig übers Festnetz anrief. Ein merkwürdiger Anruf inspirierte mich zu dieser Geschichte. Lest selbst!
Schon seit einigen Wochen hatte er das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Wenn er sie darauf ansprach, wich sie ihm aus. Ließ er nicht vom Thema ab und bestand auf einer Erklärung, beschimpfte sie ihn. Seine Eifersucht sei krankhaft, und es drehe sich nicht alles immer nur um ihn. Erst gestern hatten sie wieder über das Thema gestritten. Dieses Mal so heftig, dass sie zum ersten Mal sogar mit Trennung gedroht hatte. Sie habe es satt, sich ständig vor ihm zu rechtfertigen. Er enge sie ein, lasse ihr kaum noch Luft zum Atmen. Er sei nicht mehr der, in den sie sich einmal verliebt habe. Ihre Worte trafen ihn hart und gezielt dort, wo es ihm am meisten weh tat. Die halbe Nacht konnte er daraufhin nicht schlafen. Die Vorstellung, ohne sie zu leben, war für ihn schier unerträglich. Er hatte panische Angst davor, ihr nicht mehr gut genug zu sein. Vor sieben Jahren hatte sie, die gutaussehende und erfolgreiche Vertriebsleiterin, sich gegen seinen besser aussehenden und erfolgreicheren Kollegen und für ihn, den einfachen Sachbearbeiter in der Versicherungsabteilung, entschieden. Er konnte sein Glück kaum fassen, als sie ihn damals in der Kaffeeküche kokett nach einem Date fragte. Sie war die schönste und klügste Frau, die ihm je begegnet war. Sie hatte schulterlanges, leicht gewelltes dunkelbraunes Haar und wache, dunkelblaue Augen. Ihr Mund war wunderschön gleichmäßig geformt und ihre vollen Lippen in der Öffentlichkeit immer feurig rot geschminkt. Wenn sie lächelte, bekam man einen Eindruck ihrer makellosen Zähne. Vor allem aber liebte er ihren Duft, der so leicht und lieblich daherkam, dass ihm selbst heute noch der Atem stockte, wenn er heimlich eines ihrer getragenen Kleidungsstücke fest in sein Gesicht drückte, um ihren Geruch tief in sich aufzusaugen. Er bewunderte sie grenzenlos für ihr selbstbewusstes Auftreten, ihren scharfen Verstand und die Fähigkeit, eine ganze Gesellschaft wie selbstverständlich zu unterhalten. Bis zu seinem Knöchelbruch vor knapp drei Jahren schaute sie sich fast jedes Fußballspiel von ihm an. Ihr Dasein spornte ihn zu Höchstleistungen an. Ab und an begleitete sie ihn sogar ins Stadion zu Heimspielen seines Lieblingsvereins. Er empfand dies als maximalen Liebesbeweis, da er wusste, dass sie eigentlich lieber avantgardistische Filme im Programm-Kino anschaute. Wenn sie sich liebten, war sie während der ersten Jahre ihrer Beziehung mit einer solchen Leidenschaft dabei, wie er sie vorher noch nicht erlebt hatte. Stets hatte sie ihm das Gefühl gegeben, mehr zu sein als nur ein einfacher Sachbearbeiter, der sich von morgens bis abends mit den immer gleichen Vorgängen abmühte. Wie sehr er sie dafür geliebt hatte und es immer noch tat. Alles würde er für sie tun. Alles!
Unruhig ging er im Flur auf und ab. Bildete er sich vielleicht doch alles nur ein? Dass man nach sieben Jahren Beziehung nicht mehr so wie frisch Verliebte miteinander umging, war sicher ganz normal. Zumindest hatte er das schon oft von seinen Freunden und Bekannten gehört, die bereits seit zig Jahren eine Beziehung führten – teils sogar mit mehreren Kindern. Nach ihrer Hochzeit vor drei Jahren versuchten sie über ein Jahr, auch Nachwuchs zu bekommen. Es klappte und klappte nicht, obwohl sie sich beide so sehr Kinder gewünscht hatten. Zuerst ließ sie sich untersuchen. Es verwunderte ihn nicht, dass bei ihr alles in Ordnung war. Sie war einfach perfekt. Es musste also an ihm liegen. Er sträubte sich zum Arzt zu gehen, da er das Ergebnis schon erahnte. Nur auf ihren dringenden Wunsch hin nahm er den Gang zum Spezialisten schließlich auf sich. Und natürlich lag es an ihm, und es war nichts zu machen. Als sie das Untersuchungsergebnis erfuhr, versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen, aber er spürte, dass tief in ihr drin etwas von ihrer Liebe für ihn an diesem Tag verlorenging. Irgendetwas war ab diesem Tag anders zwischen ihnen. Ihr Liebesleben flachte in der Folgezeit merklich ab. Die Leidenschaft war einer Art Routine gewichen. Oft erschien sie ihm nun unendlich weit weg, wenn sie sich liebten. Es brachte ihn jedes Mal an den Rande der Verzweiflung, sie so nah zu spüren und ihr zugleich seelisch so fern zu sein. Sie musste es auch bemerkt haben. Darüber sprechen konnten beide jedoch nicht. Sie fingen vielmehr an, sich über Kleinigkeiten zu streiten und sich gegenseitig die Schuld zuzuweisen, dass ihre Beziehung die Leichtigkeit verloren hatte. Am Wochenende ging sie mittlerweile öfter mit ihren Freundinnen ins Kino oder ins Restaurant als mit ihm. Als er ihr einmal ins Restaurant folgte, um sich zu vergewissern, dass sie sich wirklich mit einer Freundin traf, bemerkte sie ihn. Der Streit, der daraufhin zwischen ihnen ausbrach, war so heftig ausgefallen, dass er es fortan nicht mehr wagte, ihr heimlich zu folgen. Er blieb jedoch stets wachsam und prüfte jeden Mann, der mit ihr geschäftlich oder privat in Kontakt war. Einen bestimmten Mann hatte er dabei seit ein paar Wochen etwas genauer im Visier.
Diesem Gedanken nachhängend, nahm er im Augenwinkel das Blinken des Festnetztelefons wahr. Er ging zum Telefon. „Anruf in Abwesenheit ohne Mailbox-Nachricht“ stand auf dem Display. Er kannte die Nummer nicht. Um 18.32 Uhr war der Anruf bei ihnen zu Hause eingegangen. Aber jeder wusste, dass er normalerweise erst gegen 19 Uhr zu Hause war. Der Anruf musste also ihr gegolten haben. Manchmal nahm sie sich die Zeit, um vor ihrem Tennis-Training noch kurz zu Hause eine Kleinigkeit zu essen. Wer außer ihm wusste noch davon? Da sie mit dem Bus zum Training fuhr, musste sie um 18.30 Uhr das Haus verlassen haben und hatte den Anruf daher wohl knapp verpasst. Jetzt war es 20.21 Uhr. Um Punkt 21 Uhr würde er sie wie immer mit dem Auto vom Vereinsgelände abholen. Die Sache kam ihm komisch vor. Der rätselhafte Anruf passte in eine Kette von Sonderbarkeiten, die er in den vergangenen Wochen beobachtet hatte: Mehrmals hatte er sie in letzter Zeit dabei erwischt, wie sie mit jemandem telefonierte und rasch das Telefonat beendete, sobald er zur Tür herein kam. Auf der Anruferliste, die er später heimlich überprüfte, standen aber immer nur die üblichen Freundinnen und ihre Mutter. Zudem war sie häufiger auf Geschäftsreisen als früher. Sicher hing das auch mit ihrer Beförderung zusammen, aber wenn sie beispielsweise auf einer Konferenz in Madrid oder London war, die bis einschließlich Freitag ging, hängte sie nun oft noch das Wochenende dran, um – wie sie sagte – „die Stadt noch etwas länger auf sich wirken und die Seele baumeln zu lassen“. Er sagte ihr nicht, dass ihr Verhalten ihn verletzte, da er dann wieder einen heftigen Streit befürchtete. Doch in ihm brodelte es. Er stellte sich vor, wie sie sich mit reichen, gutaussehenden Managern an der Hotelbar traf, sie zum Lachen brachte und sich schließlich mit ihnen im Hotelzimmer vergnügte. Alle zwei Stunden rief er sie daher an solchen Wochenenden an, bis es ihr vor einer Woche zu viel wurde und sie ihr Mobiltelefon einfach ausschaltete. Das machte ihn so rasend, dass er noch am selben Abend nach London flog und ihr spät abends im Hotel eine lautstarke Szene machte. Beinahe hätte er sich noch mit einem Hotelangestellten geprügelt, der ihn wegen seines lauten und vehementen Auftretens des Hotels verweisen wollte. Nur ihr und ihren überzeugenden Verhandlungskünsten sowie ihrem perfekten Englisch war es zu verdanken, dass das Hotel nicht die Polizei rief und er bei ihr bleiben durfte. Sie versprach ihm, nie wieder das Mobiltelefon auszuschalten. Aber schon am nächsten Morgen hörte er, wie sie im Badezimmer über ihr Firmen-Handy mit jemandem leise telefonierte. Das englische Wort „adoption“ fiel öfters und war das einzige, was er verstehen konnte. Sehr sicher war er sich aber nicht, ob er das Wort auch richtig verstanden hatte, da er sich keinen Reim darauf machen konnte. Als sie bemerkte, dass er wach war, legte sie schnell wieder auf. Am liebsten hätte er sie erneut zur Rede gestellt, da aber die letzte Auseinandersetzung keine 24 Stunden her war und sie ihm in der Nacht versichert hatte, dass es niemand anderen in ihrem Leben gäbe als ihn, schluckte er seinen Ärger hinunter. All diese heimlichen Telefonate! Und zu allem Übel war ihr geschäftliches Handy auch noch passwortgeschützt! Was hatte es also nun mit diesem verpassten Anruf auf sich? Er trat von einem Fuß nervös auf den anderen, während er auf das blinkende Display starrte.
Schließlich konnte er die Ungewissheit nicht mehr aushalten und drückte auf „Rückruf“. Es knackte kurz in der Leitung, bevor er das Freizeichen vernahm. Eine junge Frauenstimme meldete sich mit ihrem Namen. Er war für einen kurzen Moment überrascht, dass tatsächlich jemand das Telefon abgenommen hatte, und überlegte fieberhaft, was er sagen sollte. „Hallo?“, fragte die Frau und riss ihn damit aus seinen Gedanken. „Hallo. Mein Name ist Michael Schwarz. Sie hatten mich angerufen“, sagte er daraufhin schnell. „Nein, das habe ich nicht!“, widersprach die Frau nach kurzem Zögern. „Doch, das haben sie. Ihre Nummer steht auf meinem Display!“ Die Frau schien zu überlegen. „Wie heißen Sie noch gleich?“ Er wiederholte seinen Namen und spürte, wie Unbehagen in ihm hochstieg. „Nein, tut mir leid. Ich kenne sie nicht und habe sie auch nicht angerufen“, sagte sie freundlich. „Aber Ihre Nummer steht doch auf meinem Display!“, erwiderte er etwas zu energisch. „Keine Ahnung! Vielleicht handelt es sich um einen technischen Fehler“, entgegnete die Frau nun ebenso energisch. Stresssituationen mochte er noch nie und sich lächerlich machen schon gar nicht. „Das glaube ich eher nicht“, warf er den Ball zunächst missmutig zurück, besann sich aber umgehend und fügte dank eines plötzlichen Geistesblitzes freundlich hinzu: „Meine Frau heißt Linda. Linda Schwarz. Kennen Sie eine Frau mit dem Namen?“ Detektivspielen mochte er schon als kleiner Junge gern. Da konnte er hartnäckig sein. Ihn packte mit einem Mal der Ehrgeiz. Er würde dieses Telefonat nicht beenden, bevor er nicht den Grund für den Anruf herausbekommen haben würde. Es war ein Spiel auf Zeit. Er spürte, dass die Frau am anderen Ende der Leitung ungeduldig wurde. „Nein, ich kenne keine Linda Schwarz. Hören Sie, ich würde das Gespräch jetzt gern beenden, okay?“ Er wusste, dass er jetzt nur noch eine letzte Frage stellen konnte. Geistesgegenwärtig wusste er auch sofort, welche: „Hat vielleicht Ihr Lebensgefährte meine Frau angerufen?“, brach es sodann etwas zu plump aus ihm heraus. Er konnte sich jetzt nicht mehr zügeln und schob gleich eine zweite Frage hastig hinterher: „Sie haben doch einen Lebensgefährten, oder?“ Die Frau schien von der Gesprächswendung überrascht zu sein und kurz überlegen zu müssen. Das Zögern der Frau machte ihn argwöhnisch. Hieß das, dass sie ihrem Mann ebenfalls eine Affäre zutraute? Das musste es bedeuten! „Ich bin mir ziemlich sicher, dass niemand Sie von meinem Telefon aus angerufen hat. Ich lege jetzt auf!“, sagte sie schließlich hörbar verunsichert. Gleich hatte er sie. Gleich bekam er die Antwort, auf die er schon seit Wochen sehnsüchtig gewartet hatte. Nein, so einfach würde er sich jetzt nicht abwimmeln lassen. Jetzt nicht! Er war so nah dran! „Haben Sie denn nun einen Lebensgefährten oder nicht?“, hörte er sich in aggressivem Tonfall fragen. Die Frau am Telefon hatte sich mittlerweile wieder gefangen. „Das wird mir jetzt zu persönlich! Ich kenne Sie nicht! Auf Wiederhören!“, verabschiedete sie sich schnell und legte auf. „Warten Sie!“, rief er noch verzweifelt ins Telefon. Doch es war zu spät. In dem Moment des Abbruchs der Verbindung wurde ihm schlagartig bewusst, dass er wieder einmal versagt hatte. Wütend schmiss er den Hörer gegen die Wand und schlug mit der flachen Hand mehrmals gegen den Türrahmen. Sein Plan war nicht aufgegangen. Er lehnte seine heiße Stirn gegen die kalte Wand und verweilte in dieser Position einige Minuten im Flur. Wut und Verzweiflung vermischten sich zu blindem Hass. Plötzlich erschien ihm alles so klar: „Sie betrügt mich!“, sprach er plötzlich laut aus. Es gab einfach keine andere Erklärung. „Sie betrügt mich mit ihrem neuen Tennislehrer!“, sprach er erneut laut aus, dieses Mal mit einem zynischen Lachen begleitet. Er raufte sich die Haare und rekapitulierte: Wenn er exakt zurückrechnete, wann Lindas merkwürdige, heimliche Telefonate begannen, stimmte dies ziemlich genau mit dem Zeitraum überein, in dem sie die ersten Trainings-Stunden bei diesem Mario nahm. Mario kam ihm von Anfang an verdächtig vor. Nicht nur, dass Mario einen sehr gut austrainierten Körper hatte und braungebrannt war, sondern er erinnerte ihn auch stark an seinen damaligen Kollegen, der sein Konkurrent gewesen war. Mario war nur deutlich jünger und sah noch besser aus. Auch die junge Frauenstimme eben am Telefon passte perfekt hinein. Dieser ominöse Anruf von ihrem Apparat aus war das letzte noch fehlende Puzzleteil! Sie war hundertprozentig Marios nichtsahnende Freundin, so jung und verunsichert wie ihre Stimme klang. Es konnte nur Mario sein, mit dem Linda ihn betrog! Linda hatte sich bei ihrem gestrigen Streit indirekt verraten, indem sie angedeutet hatte, dass sie sich damals vor sieben Jahren für den Falschen entschieden hatte. Jetzt versuchte sie, ihren Fehler mit Mario wieder wett zu machen! Eine Eiseskälte breitete sich in ihm aus. Glasklar hatte er nun vor Augen, was er zu tun hatte. Als er die Wohnung mit dem Autoschlüssel in der einen Hand und mit dem größten Messer, das er in der Küche finden konnte, in der anderen Hand verließ, war es 20.45 Uhr.
Um 20.48 Uhr klingelte das Telefon erneut. Nach dem fünften Klingeln sprang der Anrufbeantworter an. „Hallo? Herr Schwarz?“, fragte eine unsichere Frauenstimme. „Wir hatten eben gesprochen. Da es Ihnen ja so wichtig schien, wer Sie oder Ihre Frau angerufen hat, habe ich noch mal nachgedacht.“ Sie machte eine kurze Pause. „Mir ist dann eingefallen, dass ich heute meinen Freund auf seiner neuen Festnetznummer angerufen habe, mich dabei aber beim ersten Mal verwählt hatte.“ Die junge Frau kicherte nervös. „Das hatte ich völlig vergessen. Ich schätze, dass das wohl Ihre Nummer gewesen sein wird. Das wollte ich Ihnen nur sagen. Tschüss und viele Grüße an Ihre Frau.“